Ausstellung Galerie Bagnato 2018
Konstanz
Eröffnungsrede:
Prof. Dr. Roland Galle, Essen
Auf ihrem Einladungsprospekt hat Annette Jauß als Leitwort für ihre Arbeiten eingetragen: „Nichts ist, wie es zunächst erscheint.“ Sie hat damit den Grundimpuls ihres Arbeitens vorformuliert, geht es ihr doch um den Versuch, den prima facie gegebenen Eindruck von den Dingen dieser Welt zu transformieren in das, was für sie selbst – und vielleicht auch für den Betrachter – hinter diesem Eindruck sich verbirgt, um eine tiefere und wesenhafte Wirklichkeit.
Die beiden traditionsreichen Konzepte der Nachahmung und der Ähnlichkeit, welche die Geschichte der Künste von Anbeginn an begleitet haben, kollabieren in der Moderne. Der nun emphatisch betonte schöpferische Akt des Künstlers schafft eine neue Wirklichkeit, die mit der uns vertrauten nicht mehr übereinstimmt. Was nun hervortritt, das können Entstellungen und Verzerrungen sein, Schrumpfungen oder auch monströse Auswüchse, vielleicht schreckerregende Phantasmagorien. Aber das, was jetzt ans Licht geholt wird, ist nicht einfach beliebig, sondern legt das Wesen der Dinge frei. „Nichts ist, wie es zunächst erscheint.“ Oder, positiv gewendet in einer Formulierung von Willhelm Lehmbruck: „Die Skulptur ist das Wesen der Dinge.“
Wie aber ist das, was ist, das „Wesen der Dinge“, unter den Voraussetzungen der Moderne, zu erreichen. Es ist dies die schwierigste aller Fragen und wir können sicherlich keine Antwort anbieten, sondern höchstens Aspekte für eine Antwort anführen:
- Da ist zunächst die Kreativität des Künstlers;
- Sie muß sich fokussieren auf das Finden einer Figur, die dem eigenen Anspruch gerecht werden muß und doch auch im Publikum Widerhall findet;
- Dann bleibt die Aufgabe der Formgebung, in der Moderne nicht mehr durch feste Regulative wie den goldenen Schnitt oder Ähnliches vorgegeben, notwendigerweise aber virulent in den Elementen, die die künstlerische Expression allererst möglich machen;
- Und da sind schließlich die künstlerischen Materialien, die in der Moderne ein zunehmendes Eigengewicht besitzen und sich enorm erweitert haben.
Und auf diesen letzten Punkt, die künstlerischen Materialien, möchte ich mich – die Arbeiten von Annette Jauß kommentierend – im Weiteren konzentrieren. Es ist dies nur ein Aspekt ihrer Kunst. Er scheint mir aber wichtig genug, um hier in den Fokus gerückt zu werden. Es ergibt sich daraus die Einteilung ihres Werks in drei Gruppen:
- die Arbeiten in Stein;
- die Arbeiten in Bronze;
- die in Arbeiten in Eisen.
Wenden wir uns nun zunächst den Arbeiten in Stein zu. Es liegen Stücke in Marmor, Granit und Diabas vor. Aufgerufen ist damit die Königsdisziplin der Bildhauerkunst. Aus einem Gesamtblock wird durch subtraktives Abtragen von Material eine Figur freigelegt. Das basale Werkzeug für diese Arbeit ist der Meißel. Die harmonisch proportionierte Form war über Jahrhunderte Kennzeichen dieser Skulptur-Kunst. Dieser Hintergrund läßt – am Beispiel des hier prominent ausgestellten Bison in Granit – deutlich werden, wie anders und wie spezifisch Annette Jauß als moderne Künstlerin das traditionsreiche Material einsetzt und wie radikal nun das Motto dieser Ausstellung „nicht ist, wie es zunächst erscheint“, umgesetzt und eingelöst wird.
Auffallend ist zunächst, daß die Figur ganz in die Horizontale gedrückt ist. Das Schwere und Wuchtige, das dem Bison als Gattung eigen ist, bleibt erhalten, wird aber überlagert von der Wirkung, die von der nun geduckten Haltung, in die die Tier-Gestalt hineingezwungen ist, ausgeht. Dem korrespondieren die Kerben, die ihr eingeschlagen sind. Sollen sie auf erlittene Qual und auf Schmerz hinweisen, Fragezeichen, so markieren sie doch auch, effektvoll, die Formgebung, die dem Granitblock abgewonnen worden ist. Gerade indem die Bedeutungshaftigkeit einzelner Elemente minimiert wird, tritt das grobkörnige Material als ästhetisches Ausdruckmittel aus eigener Kraft hervor.
Wie die Arbeiten in Stein und die in Bronze ihre je eigene Expressivität haben, das könnte ein näherer Vergleich zwischen dem Zwiegespräch in Marmor und dem Ehepaar in Bronze verdeutlichen. Wir haben das Zwiegespräch nur als photographische Reproduktion vor Augen. Deutlich dürfte aber sein, wie sehr der Marmor – auch in der gegebenen Schwundstufe körperlicher Wiedererkennbarkeit – einen geradezu feierlichen Ernst für das Zwiegespräch erzwingt. Eindrucksvoll, wie die Polarität männlich/weiblich von konkreten Merkmalen abgelöst und ganz in die bloße Materialform selbst übertragen ist: Der gerundete linke Stein sucht offensichtlich die Nähe eines Gegenüber, der – fast schelmisch – auf Distanz insistiert.
Wir haben dann, in zeitlicher Nähe, die Verarbeitung eines vergleichbaren Motivs in Bronze; Ehepaar 2007. Um zunächst beim Material zu bleiben: Man sieht sofort die weitaus geschmeidigeren Gestaltungsmöglichkeit, die eine Bronzearbeit bietet. Der ebenfalls festen und dauerhaften Gußform Bronze liegen ja komplizierte und sehr flexibel handhabbare Ton-, Gips- und eventuell Silikonabzüge zugrunde. Im gegebenen Fall zeigen die witzigen Kopfbedeckungen, die unterschiedliche Durchlöcherung der beiden Corpora, die Freistellung der eingeschrumpften Beinansätze, vor allem aber die durch ein Stahlkabel gewährleistete Unterleibsverbindung unseres Paars, dann die monströs heraushängenden Hauerzähne, die bei der männlichen Figur als Vexierbild eines Geschlechtsorgans wiederaufgenommen sind, ein Surplus an Gestaltungsmöglichkeit, das die heute äußerst flexibel eingesetzte Bronze dem Stein gegenüber besitzt.
Das Quasi-Beckett‘sche Paar möchte ich aber auch zum Anlaß nehmen, auf einen Wesenszug zumindest vieler Arbeiten von Annette Jauß abzuheben: So sehr auch die Figuren entindividualisiert und aus sozialen Koordinaten herausgelöst sind, sie haben die Fähigkeit zu einem dialogischen Miteinander – und sei es in der Form eines Kampfes – nicht verloren. Das letzte Erkennungszeichen des Menschen – wenn alle anderen nicht mehr tragen – ist just das Angewiesensein auf den anderen, sei dies nun in freundschaftlicher, feindlicher oder sonst miteinander ringender Art.
Auffallenderweise gilt dies nicht mehr für die letzte Materialgruppe, der wir uns nun zuwenden, den Arbeiten in Eisen. Das Eisen ist – ganz im Unterschied zu Stein und Bronze – erst im 20. Jahrhundert als Material für die künstlerische Skulpturarbeit nobilitiert worden. Pionier dieser Entwicklung ist Gonzales gewesen, ein Freund von Picasso. Hier geht es darum, daß Annette Jauß, sehe ich recht, sich dieses Material relativ spät erschlossen hat, mit einem sehr spezifischen Ziel und Ergebnis. Das Material Eisen trägt die die Moderne ja allgemein beherrschende Tendenz zur Abstraktion gleichsam in sich und erlaubt es, diese Tendenz auf die Spitze zu treiben. Wir sehen dies an den beiden Figuren Ich möchte fliegen 2017 und erst recht am Gespenst von Canterville.
Ist das Skelett des Vogelkopfes wie eine Reminiszenz an vergangene Epochen der Figur Ich möchte fliegen einmontiert, so ist dabei erkennbar das Material Eisen gewählt und genutzt, um das Bild eines gebremsten Aufflugs entmaterialisiert – sowie im Gegenspiel von Streckung und behindertem Flügelschlag nur mehr evoziert – vor Augen zu führen. So haben wir es, wie das Gespenst von Canterville noch deutlicher zeigt, mit dem Phänomen zu tun, daß die technischen Möglichkeiten der Materialien die Auflösung von Mensch- und Weltenbild noch befördern, bis hin zu einer Körperfigur, die residual nur noch besteht, um eine existentielle Verstörung und Zerrüttung oder auch: die spielerische Kraft der Imagination zu demonstrieren. Wenn die Welt, die uns umgibt, so nicht erscheint, so sind wir doch eingeladen zu sehen und zu erkennen, daß sie so ist und mithin das schöne Motto „nichts ist, wie es zunächst erscheint“ noch einmal auf besonders eindrucksvolle Art bestätigt wird.
Claus Dietrich Hentschel
Gedanken zu drei Figuren:
Für mich steht Annette Jauß künstlerische Arbeit für ein jetztzeitiges, ambivalentes Menschendenken:
Labile Zustände, die Stützen benötigen, Deformationen, Auflösungen, Verfallszustände. Dunkle Höhlungen gegen Durchleuchtungen. Andererseits ein Schweben, eine tänzerische Leichtigkeit, in einer bestimmten Phase angehalten; Stillstand im geronnenen Material, doch der Augenblick denkt sich weiter in der Zeit. – Gefühlsmäßig ewiger wirkend der Stein, der die Veränderung nicht weiter denken lässt, sondern im Unvollendeten sich vollendet.
Auf einem groben Holzsockel liegt eine unregelmäßig geformte Platte aus rötlichem Granit, auf der wiederum befinden sich zwei aufeinander bezogene Marmorskulpturen, die sich vertikal-verschränkend in den Raum bewegen. Zwischenräume, Vertiefimgen und Höhen, oft in gegenläufiger Bewegung, und scharfe Abbrüche fordern den Betrachter auf, die Figurengruppe zu umschreiten, wobei er feststellt, dass sich das „Zusammenspiel“ einer festen Bildvorstellung entzieht, da jeder neue Standpunkt es anders erscheinen lässt. Stehen gelassene Meißelspuren geben einerseits Auskunft über den Arbeitsprozess, führen aber auch das Auge oft in feinen Linien über die Oberfläche. Die im Stein lagernden Schichten und Abbruchkanten werden in die Arbeit mit einbezogen.
Im allgemeinen suchen wir in jeder Gestalt das Anthropomorphe zu erkennen. Denkt man z.B. an „Baumriesen“, „Wolkenbilder“, den „Mann im Mond“ und was es noch so geben mag. Geringe Hinweise, z.B. Strichmännchen in Kinderzeichnungen oder auf Zeichen reduzierte Verkehrsschilder reichen aus, um sofort den entsprechenden Impuls auszulösen, der uns sagt, worum es geht. Die Horizont überschneidende Vertikalität, das heißt unsere aufrechte Körperempfindung, ist uns ebenfalls innewohnend.
Betrachten wir unter diesen Gesichtspunkten die skulpturale Gruppe noch einmal, so werden wir bemerken, dass sie keine Eindeutigkeit zulässt. Anthropomorph geformte Vertikalität lässt uns aufeinander bezogenen „Figuren“ sehen, aber Figuren ohne Erinnerung ohne Fixpunkt. Sie sind künstlerisch vollendet, aber nicht fertig – oder waren sie es einmal und die Zeit hat an ihnen genagt?
Napoleon mit Saxophon, 2006, Bronze
In dieser Plastik sind bekannte Dinge zu entdecken, die, wie ich finde, hier in einer durchaus ironischen (s. auch Titelgebung) Verfremdung eine neue, assoziationsreiche, figurbildende Gegenständlichkeit hersteilen.
Vertikal montierte Holzstangen sind der stützende Unterbau für angetragenes Wachs, montierte, geformte und hartgetrocknete Bananenschalen, Pflanzenstängel und Baumpilze. – Die Plastik wird dann im Verfahren der verlorenen Form von Formsand umgeben, in einem Kasten hoch erhitzt, so dass die organischen Materialien verbrennen und eine Hohlform entsteht, die mit flüssiger Bronze ausgegossen wird. – Die ursprünglich fragile Materialität gerinnt in hartes Material, in langanhaltende Dauerhaftigkeit. Die einzelnen, verschiedenfarbigen Oberflächen der zusammengefugten Dinge werden durch die Bronze vereinheitlicht, ursprünglich stumpfes Material reflektiert Licht.
Im Umschreiten verändert sich ständig die Silhouette der Figur – überraschende Auswüchse, Höhlungen und Durchblicke fordern unsere erinnernde Wahrnehmung, lassen aber kein konkretes Wiedererkennen zu. Eine neue, unsere Phantasie beschäftigende Figur ist entstanden.
Gottesanbeterin, 2004, Zement, Eisen
Mantis religiosa – eine Fangheuschrecke. – Ich erlebte sie einmal in Sardinien bei einem Aufenthalt in freier Natur direkt über meinem Kopf sitzend.- Ein eigentlich kleines Insekt nur, das Unbehagen auslöst, denn die Methode seiner Beutejagd wird durch den Körperbau sofort angsteinflößend einsichtig: unbeweglich, wie zum Gebet erhoben, verharren ihre Fangarme, um blitzschnell auszufahren, wenn sich eine Beute nähert.
Zwiespältige Gefühle: Auf eisernem Fuß erhebt sich ein filigranes Eisengestell, Zement ummantelt, eine zerbrechliche Figur, doch durchgetriebene Nägel wirken schmerzlich, schmerzlich für den Aggressor selbst, aber auch domenartig Gefahr signalisierend für einen Angreifer. – Man wird an afrikanische Nagelfetische erinnert, Figuren die von einem Zauberer mit magischer Substanz aufgeladen werden. Die eingeschlagenen Nägel reizen den innewohnenden Geist zu Aktivitäten, die dem Menschen helfen können. Der Mensch gewinnt Kraft über die Natur, indem er den Naturgeist im Fetisch einfängt, damit Einfluss über ihn erhält, den er sich bei bestimmten Gelegenheiten zunutze macht. Fruchtbarkeit, Jagd, Krankheit u.a. sind die Anwendungsgebiete.
Anders als in der einheitlich wirkenden Bronzeplastik sprechen hier die verwendeten Materialien ihre eigene Sprache: klumpig angetragener Zement; Gebrauchsspuren haben die Eisenteile verformt und sie ihrem ursprünglichen, aber weitgehend noch erkennbaren Zweck entfremdet. Doppeldeutig erzählen die Materialien ihre eigene Geschichte und fugen sich doch wieder in eine neue ein, in die „Gottesanbeterin“.
Anmerkung
Die in Zement, Bronze oder Stein gestalteten Figuren sollen den Betrachter zum Verweilen und genaueren Hinsehen verführen.
Die Skulpturen verweigern sich mit ihren Kanten und Ecken dem schnellen, gefälligen Blick und laden zum Nachdenken ein.
Sie sind und können nicht anders sein als fragmentarisch und reduziert, da sie das Unvollkommene ausdrücken, mit dem wir Menschen so oft hadern.
Meine manchmal zwar monologische Arbeit verstehe ich dennoch als Dialog- und Kontaktangebot, als offene Frage an den Betrachter:
Wie verstehst du denn die Welt?
Was hast du für Gefühle?
Was machst du für Erfahrungen?
Annette Jauss, Juni 2017